Kammermitteilungen 1/2023

Anwaltsrecht/Berufsrecht )HVWVWHOOXQJVLQWHUHVVH LQ 9HUIDKUHQ GHU $QZDOVJH richtsbarkeit Die Kammer rät Arbeitszeiterfassung – auch in der Rechtsanwaltskanzlei? Der 1. Senat des Bundesarbeitsgerichts hat sich in einem vielbeachteten Beschluss vom 13.9.2022 (Az. 1 ABR 22/21) zur Arbeitszeiterfassung geäußert. Die Beteiligten stritten darüber, ob dem Betriebsrat ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Systems zur Arbeitszeiterfassung zusteht. Dies ist bezogen auf das „ob“ nicht der Fall, so die Richter des Senats, aber bezogen auf das „wie“. Nach den Leitsätzen sind Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu erfassen, für die der Gesetzgeber nicht auf der Grundlage von Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG eine von den Vorgaben in Art. 3, 5 und 6 b) dieser Richtlinie abweichende Regelung getroffen hat. Dem Betriebsrat steht kein – über einen Einigungsstellenspruch durchsetzbares – Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Systems zu, mit dem die tägliche Arbeitszeit solcher Arbeitnehmer erfasst werden soll. Dies bedeutet zum einen, dass Arbeitgeber ohnehin eine Pflicht trifft, ein System einzuführen, mit dem sämtliche Arbeitszeiten im Gemeinschaftsbetrieb erfasst werden. Zum anderen – und das ergibt sich aus der weiteren Begründung – dem Betriebsrat bei der Ausgestaltung des weiten Spielraums bei der Umsetzung durchaus eine Mitsprache bei dem „wie“ zukommt. Die grds. Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit folgt nach Ansicht des Senats aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG. Dabei seien die Formulierungen durch den Gesetzgeber, dass der Arbeitgeber zur Planung und Durchführung der Maßnahmen nach § 3 Abs. 1 ArbSchG unter Berücksichtigung der Art der Tätigkeiten und der Zahl der Beschäftigten für eine „geeignete Organisation“ zu sorgen und die „erforderlichen Mittel“ bereitzustellen hat weit zu verstehen. Die Richter verweisen in den Entscheidungsgründen auf eine Entscheidung des EuGH vom 14.5.2019 (EuGH 14.5.2019 – C-55/18 – [CCOO], sog. Stechuhr-Urteil) betreffend das spanische Recht. In dieser Entscheidung heißt es, dass sich eine entsprechende Pflicht von Arbeitgebern, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von jedem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann, im Wege der Auslegung der Vorgaben der Richtlinie 2003/ 88/EG – insbesondere deren Art. 3, 5 und 6, ergibt. Daraus folgt konkret, dass die genaue Uhrzeit des Anfangs und des Endes der Arbeit notiert werden müssen. Eine pauschale Notiz, dass ein Beschäftigter acht Stunden gearbeitet und 30 Minuten Pause gemacht hat, reicht nicht. Die Erfassung muss nicht elektronisch erfolgen und es muss auch nicht der Arbeitgeber die Arbeitszeiten für jeden einzelnen Beschäftigten notieren – das darf er durchaus an die einzelnen Mitarbeiter delegieren. Wichtig ist, dass der Arbeitgeber eine Vorgabe macht, wie die Arbeitszeit zu erfassen ist, etwa ein bestimmtes Dokument vorbereitet und verteilt, in das die Beschäftigten ihre Arbeitszeiten eintragen können. Aber: der Arbeitgeber muss auch kontrollieren, dass die Arbeitszeiten auch tatsächlich dokumentiert werden. Er darf sich nicht darauf verlassen, dass die Arbeitnehmer Arbeitszeiten notieren, wenn er es einmal angeordnet hat. Entscheidend ist, dass die Einhaltung der täglichen und wöchentlichen Höchstarbeitszeiten überprüfbar ist. Der Arbeitgeber muss also ein System hierzu einführen – wobei er bezogen auf die Umsetzung, also das „wie“ grds. einen großen Gestaltungspielraum hat. Nur der grds. Handlungsbedarf sollte nicht außer Acht gelassen werden. Letztlich gilt diese Verpflichtung nicht erst seit der Entscheidung aus September. Die Verpflichtung zur Zeiterfassung bestand jeher, wie das BAG nunmehr feststellt. Die europäischen Vorgaben des Arbeitszeitrechts wurden also bislang in Deutschland nicht richtig umgesetzt. Daher braucht es nun auch grds. keiner Gesetzesänderung mehr. Die Pflicht folgt vielmehr unmittelbar aus den Regelungen zum Arbeitsschutz. Zwar unterfallen grds. auch leitende Angestellte der Norm des § 3 ArbSchG, auf die das BAG die Pflicht zur Erfassung in europarechtskonformer Auslegung stützt. Der Arbeitsschutz gilt für alle Beschäftigten im Betrieb. Allerdings muss auch das Arbeitsschutzgesetz europarechtskonform ausgelegt werden, und die entsprechende europäische Arbeitszeitrichtlinie sieht in Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG Ausnahmen für leitende Angestellte vor. Der deutsche Gesetzgeber hat von der Ausnahme Gebrauch gemacht und nimmt leitende Angestellte gem. § 18 ArbZG ausdrücklich von den Regelungen des Arbeitszeitgesetzes aus. Tatsächlich drohen bei Verstößen gegen die Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit derzeit keine unmittelbaren Folgen. Die Pflicht resultiert aus § 3 ArbSchG, Verstöße hiergegen sind nicht nach § 25 ArbSchG Bußgeldbewehrt und bedürfen erst einer konkreten Anordnung durch die Behörde (§ 22 Abs. 3 ArbSchG). 12 KammerMitteilungen RAK Düsseldorf 1/2023

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