Kammermitteilungen 2/2022

beA: Ein Absender von Schriftsätzen über das besondere elektronische Anwaltspostfach (beA) handelt nur dann nach der größten vernünftigerweise von ihm zu erwartenden Sorgfalt, wenn er einen ausreichend großen zeitlichen Sicherheitszuschlag bis zum Fristablauf sicherstellt – VG Gelsenkirchen, Urt. v. 7.12.2021 – 18 K 3240/20 Bei der Nutzung der elektronischen Versendung von Schriftsätzen gemäß § 55a VwGO trägt das Risiko des Zugangs grundsätzlich der Absender. Dabei hat dieser auch den Zeitbedarf zwischen der Absendung des elektronischen Dokuments und der Aufzeichnung auf der für den Empfang bestimmten Einrichtung zu bedenken. Ein Absender von Schriftsätzen über das beA handelt nur dann nach der größten vernünftigerweise von ihm zu erwartenden Sorgfalt, wenn er einen ausreichend großen zeitlichen Sicherheitszuschlag bis zum Fristablauf sicherstellt. Dieser Sicherheitszuschlag muss so bemessen sein, dass er möglichen Störungen des Übertragungsweges Rechnung trägt und ggf. auch Wiederholungen des Übertragungsversuches ermöglicht. Dies, so das VG Gelsenkirchen, ist nicht der Fall, wenn der Rechtsanwalt den zur Fristwahrung erforderlichen Schriftsatz per beA lediglich eine Minute und 10 Sekunden vor Ablauf der Ausschlussfrist des § 92 Abs. 2 VwGO versendet. (...) Bei der Frist des § 92 Abs. 2 S. 1 VwGO ist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter den Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 VwGO grundsätzlich ausgeschlossen. Dies gilt allerdings entsprechend des Rechtsgedankens der § 58 Abs. 2, § 60 Abs. 3 VwGO nicht für Fälle, in denen die Betreibensfrist aufgrund höherer Gewalt versäumt wurde. Ein Fall höherer Gewalt liegt vor, wenn ein Ereignis eintritt, das unter den gegebenen Umständen auch durch die größte nach den Umständen des gegebenen Falls vernünftigerweise von dem Betroffenen unter Anlegung subjektiver Maßstäbe – also unter Berücksichtigung seiner Lage, Erfahrung und Bildung – zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte. Bei der Konkretisierung der größten vernünftigerweise zu erwartenden Sorgfalt ist die Bedeutung der Fristwahrung für den Betroffenen in Rechnung zu stellen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Sorgfaltsanforderungen umso höher sind, je weiter eine Frist ausgenutzt wird, vgl. BVerwG, Urteil vom 10.12.2013 – 8 C 25.12 –, juris, Rn. 31 m.w.N. Dies zugrunde gelegt ist der Klägerin keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil die Voraussetzungen für die Annahme höherer Gewalt vorliegend nicht erfüllt waren, so das Gericht. Bei Versäumung der Ausschlussfrist galt die auf Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung der von der Klägerin begehrten Approbation als psychologische Psychotherapeutin gerichtete Klage gemäß der Regelung des § 92 Abs. 2 VwGO als zurückgenommen. Schon deshalb war von ihr und dem von ihr mandatierten Prozessbevollmächtigten bei größter Sorgfalt zu erwarten, alle zumutbaren Anstrengungen zu unternehmen, um die fristgerechte Einreichung einer Klagebegründung sicherzustellen. Dem ist das Verhalten des Prozessbevollmächtigten der Klägerin, dessen Verhalten sie sich gemäß § 173 S. 1 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen muss, nicht gerecht geworden. Denn wenn dieser den zur Fristwahrung erforderlichen Schriftsatz per besonderem Anwaltspostfach lediglich eine Minute und 10 Sekunden vor Ablauf der Frist – so sein eigenes anwaltlich versichertes Vorbringen – versendet, wahrt er nicht mehr die von ihm zu erwartende und zumutbare Sorgfalt. (...) Anders als es der Prozessbevollmächtigte der Klägerin meint, kommt es nicht darauf an, ob die Übertragungsstörung nach seinem eigenen subjektiven Erfahrungsschatz für ihn vorhersehbar war. Maßgeblich ist stattdessen vielmehr, ob er die Fristversäumung verhindert hätte, wenn er die von ihm zu erwartende und ihm zumutbare Sorgfalt an den Tag gelegt hätte. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts: Dieses stellt nicht darauf ab, ob die konkrete Verzögerung für den Betroffenen vorhersehbar war, sondern darauf, ob Verzögerungen generell auszuschließen waren, vgl. BVerwG, Urteil vom 10.12.2013 – 8 C 25.12 –, juris, Rn. 31. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass der Begriff der höheren Gewalt enger ist als der Begriff des Verschuldens. Denn § 60 Abs. 3 VwGO fragt – in Abgrenzung zu § 60 Abs. 1 VwGO – gerade nicht nach dem Verschulden des Betroffenen. Dementsprechend lässt sich auch die von dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin angeführte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die zur Frage des Verschuldens beim Faxversand ergangen ist, nicht auf den vorliegenden Fall übertragen. (...) Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hätte die Fristüberschreitung verhindern können, wenn er einen größeren zeitlichen Sicherheitszuschlag eingeplant hätte. Ein solcher war von ihm – entsprechend seiner Lage, Bildung und Erfahrung – zu erwarten und ihm zumutbar. Denn eine Verzögerung elektronischer Datenübertragungen ist kein so ungewöhnliches Ereignis, dass nicht damit gerechnet werden muss. Auch bei einer in aller Regel reibungslos funktionierenden Übertragung über das Internet, die gewöhnlich nur wenige Sekunden in Anspruch nimmt, kann es zu Störungen kommen, die außerhalb der Sphäre des Gerichts liegen. Eine Datenübertragung über das Internet verläuft in aller Regel nicht linear nur über das Netz eines ZugangsRechtsprechungsübersicht 36 KammerMitteilungen RAK Düsseldorf 2/2022

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